Frau mit Doppelleben
True Crime: Mordfall Sonja Bletschacher von 1951
Die Krimigattung „True Crime“ hat immer etwas Faszinierendes, denn es geht um authentische Fälle. Und wenn ein Mordfall in der eigenen Stadt passiert, erhöht es noch einmal das Interesse, denn der Leser kennt viele Orte, die in der Berichterstattung erwähnt werden. Auch wenn er heute nahezu vergessen ist: Der Mordfall Sonja Bletschacher erschütterte im Dezember 1951 die Stadt Starnberg. Die 47-jährige Witwe war in ihrer Wohnung mit zahlreichen Messerstichen brutal ermordet worden. Bis heute ist die Tat ungeklärt. Die Zeithistorikerin und Archivarin Dr. Ulrike Claudia Hofmann hat sich den mysteriösen Fall anhand der Originalakten noch einmal vorgenommen. Was das jüngst im Allitera-Verlag erschienene Buch mit dem Titel „True Crime Starnberger See – Mord im Haus Adlon“ so spannend macht: Der Autorin ist eine atmosphärisch dichte und sorgfältig recherchierte Zeitreise in die frühen Fünfzigerjahre geglückt. Der Krieg lag nur wenige Jahre zurück, die Menschen versuchten wieder Fuß zu fassen im Leben, die Gesellschaft war prüde und konservativ. Das Drumherum weckt Erinnerungen an den Fall der berühmten Halbweltdame Rosemarie Nitribitt, die 1957 ermordet wurde. Mit den Tabus der damaligen Zeit hatte auch Sonja Bletschacher zu kämpfen, die ein Doppelleben führte, wie sich im Buch nach und nach herausstellt. Sorgfältig hielt sie auf ihren guten Ruf, obwohl die attraktive Witwe heimlich verschiedene Liebschaften pflegte.
Tatort: Villa in der Max-Emanuel-Straße
Die Lebensumstände waren bedrückend: Wie es damals gang und gäbe war, bewohnte Sonja Bletschacher nicht etwa eine abgeschlossene Wohnung, sondern ein Zimmer im Haus von Ottilie Adlon in der Max-Emanuel-Straße 7 (heute Hausnummer 23), einer herrschsüchtigen und neugierigen Vermieterin. Sonja Bletschacher hatte große Geldsorgen. Die kleine Witwenpension reichte nicht weit, mit den Verkäufen von Kleidung aus besseren Tagen und Stoffen versuchte sie ihr Einkommen aufzubessern. Im Laufe der Ermittlungen wird der Fall immer verwickelter und mysteriöser. Zeugen haben abends auch immer wieder einen unheimlichen Unbekannten in der Nähe des Tatorts gesehen. Die Kriminalbeamten finden sich in einem Geflecht unterschiedlichster Aussagen und Hypothesen wieder, die keinen Rückschluss auf den Täter zulassen, auch wenn als das wahrscheinlichste Motiv Eifersucht oder Rache vermutet werden.
Kurioserweise stellt sich heraus, dass Sonja Bletschacher sogar eine Liebschaft mit Otto Praun unterhielt – der in Pöcking lebende Arzt wurde 1960 selbst zum Mordopfer, als mutmaßliche Täterin wurde Vera Brühne verurteilt. Auch die Vermieterin Ottilie Adlon ist gesellschaftlich keine Unbekannte: Sie ist die geschiedene Frau des Berliner Hotelerben Louis Adlon. Darüber hinaus erfährt man auch viel über den Alltag im Starnberg Anfang der Fünfzigerjahre: Eingekauft wurde im Lebensmittelladen in der Wittelsbacher Straße, es gibt noch das Kino Schlosstheater, im Hotel Bayerischer Hof trifft man sich zum Bridgespielen. Wer Sonja Bletschacher ermordete, das kann auch Autorin Ulrike Claudia Hofmann nicht abschließend klären. Um den Leser am Ende des Buchs nicht ratlos zurückzulesen, liefert sie eine fiktive Auflösung, wie sich damals alles abgespielt haben könnte. Dem kann man sich anschließen oder nicht.
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