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Zeit(k)reise: Wiedersehen mit Myat

Ärzte helfen den Ärmsten - Die Tutzinger Gynäkologin Solveig Groß war unterwegs als "River Doctor&quo

Baby an Bord: Frauenärztin Solveig Groß (Mitte) und das Team der River Doctors leisteten Geburtshilfe. (Bild: Solveig Groß)

Sie stand immer schon da und wartete geduldig auf das Boot der „River Doctors“, das im KinTat Village anlegte. Mehr noch ein Kind, als ein junges Mädchen. Den Krankenschwestern war die schüchterne 13-Jährige längst aufgefallen. Im Arm hatte Myat Pan Pwint eine Zweijährige, neben ihr standen zwei kleine Jungs, wie sie dünn und ausgezehrt. Jeden Monat kam sie an Bord des Ambulanzschiffes und holte sich den Vitaminsaft ab. Den brauchten sie dringend, da es außer ein paar Handvoll Reis nichts zu essen gab. Irgendwann fasste Myat Vertrauen und erzählte ihre Geschichte. Dass sie niemanden mehr haben. Dass die Mutter plötzlich vier Monate nach der Geburt der Jüngsten starb. Dass der Vater fortging und die Kinder sich selbst überließ. Nun ist es Myats Aufgabe, ihre Geschwister durchzubringen. Jeder Tag ist ein Kampf ums Überleben. Während ihr 17-jähriger Bruder auf dem Reisfeld schuftet, um etwas Geld heimzubringen, übernimmt Myat die Mutterpflichten. Sie kocht den Reis, hält das Haus in Ordnung. In die Schule gehen kann sie nicht. Denn die kostet Geld, und außerdem muss sie auf die Kleinen aufpassen.

Grenzenlose Armut

Es war ein Schicksal, das Solveig Groß sehr bewegte. Die Frauenärztin aus Tutzing war letztes Jahr mehrere Wochen an Bord der „River Doctors“ im burmesischen Irrawaddy Delta, um Patienten zu behandeln. „Myats Perspektive war aussichtslos“, erinnert sich Groß. „Ohne Schulbildung und aus eigener Kraft hätte sie ihre Situation niemals ändern können, das konnte ich nicht mitansehen.“ Sie übernahm deshalb eine Patenschaft. 90.000 Kyatt überweist sie monatlich, umgerechnet 75 Euro.

Zeit nehmen

Auch in diesem Herbst ist Groß für eine Woche in das abgelegene Flussdelta gefahren, um zu schauen, wie es Myat geht und wie sich die Schwangerenbetreuung auf dem Ambulanzschiff entwickelt hat. Sich dafür aus dem beruflichen Alltag und der eigenen Praxis auszuklinken, geht nicht ohne weiteres. „Die Zeit dafür muss man sich schon nehmen“, sagt sie. „Geschenkt wird sie einem nicht.“

Myanmar, das frühere Burma, ist eines der ärmsten Länder der Welt. Jahrzehntelang wurde es von einer Militärdiktatur ausgebeutet. Besonders die Menschen im Irrawaddy Delta, einer wirtschaftlich bedeutungslosen abgelegenen Sumpflandschaft, leiden unter großer Not, leben in primitiven Bambushütten, die auf Stelzen im Morast stehen. 500 der 557 Dörfer sind nur mit dem Boot erreichbar. Wer hier krank wird, muss stundenlang auf dem Wasser zum nächsten Krankenhaus fahren. Vorausgesetzt, er hat das Geld für die Behandlung. Die „River Doctors“ sind die einzige Hoffnung auf bessere medizinische Versorgung. Das seit drei Jahren von der Artemed Stiftung finanzierte Boot legt an verschiedenen Stationen für zwei, drei Tage an. Die Dorfbewohner können sich an Bord kostenlos behandeln lassen. Die Besatzung besteht aus burmesischen Ärzten und Krankenschwestern und Gast-Doktoren aus dem Westen.

River Doctors

Als Gynäkologin geht es ihr besonders darum, eine bessere Schwangerenvorsorge zu installieren. Denn die Mütter- und  Säuglichkeitssterberate in Mynmar ist eine der höchsten der Welt. Groß war deshalb froh, dass die Arbeit mit dem Ultraschall, die letztes Jahr begonnen hat, gut angelaufen ist. Die Frauen kommen und lassen sich checken, Risikoschwangerschaften können so herausgefiltert werden.

„Wir haben hier in Deutschland alles und leben so gut versorgt, da möchte ich etwas zurückgeben.“ Das Engagement der Ärztin ist humanistisch begründet. Immer wieder erlebt sie, wie sich im Kleinen die Welt verbessern lässt, selbst inmitten der grenzenlosen Armut. Tief beeindruckt war sie vom Dorflehrer Khin Zaw in KinTat Village, der die Kinder in den Unterricht gehen lässt, auch wenn sie das Schulgeld von umgerechnet 200 Euro im Jahr nicht zahlen können. Das aber bringt das Internat in große finanzielle Bedrängnis. Im Patienten- und Freundeskreis der Tutzinger Ärztin unterstützen mittlerweile viele die Leute vom Irrawaddy Delta, wofür sie sehr dankbar ist.

Myat hat eine Chance

Natürlich hat Groß auch Myat besucht, ein Jahr, nachdem sie sie das erste Mal getroffen hat. Sie ist jetzt 15, kann lesen, schreiben und rechnen. Die 75 Euro im Monat haben nicht nur für die Schule und mehr Essen gereicht, sondern sogar für ein eigenes kleines Häuschen, wo sie und ihre Geschwister bald leben werden. Myat macht Pläne für die Zukunft. Nächstes Jahr will sie in der Kreisstadt eine Ausbildung als Schneiderin machen und eine Schneiderei daheim eröffnen. Sie kann ihr Glück noch gar nicht fassen.

„Myat hat jetzt eine Chance“, sagt Solveig Groß.

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