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„Ich glaube an die Jugend von heute“

Zeitzeuge Abba Noar erzählte an der Realschule

Die SMV der Staatlichen Realschule bedankte sich bei Abba Noar für seinen Vortrag mit einem Schild und einer Spende zugunsten des „Dachau International Committees“. (Bild: mka)

Es war mucksmäuschenstill, im wahrsten Sinne des Wortes hätte man wohl eine Stecknadel fallen hören können, als Abba Noar (91), einer der allerletzten Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, im Mehrzweckraum der Staatlichen Realschule in Weilheim von seinen Erlebnissen erzählte. 13 Jahre war er alt, als der Schrecken begann, 17 als ihn die Amerikaner befreiten.

Als Abba Noar am 21. März 1928 in Litauen geboren wurde, war die Welt noch in Ordnung. „Juden und Christen lebten friedlich neben- und miteinander“, erzählt Noar den rund neunzig Zehntklässlern, zu denen sich auch ein paar Lehrer und Sekretariatskräfte gesellt haben. Mit seinen Eltern und den beiden Brüdern verlebte Noar eine glückliche Kindheit in Kaunas. Noars Vater war richtiger „Litauer“, er war sogar Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr in Kaunas. 240.000 Juden gab es damals in Litauen, 60.000 waren Kinder. Das Grauen überlebt haben knapp zehntausend Erwachsene und rund 350 Kinder. Es kam schleichend, erinnert sich Noar. Erst die Sprüche „Kauft nicht bei Juden!“, dann die Bücherverbrennungen. „Und da, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“, zitiert Abba Noar Heinrich Heine. Er hat es erlebt. Vor der zunehmenden Bedrohung floh die Familie ins achtzig Kilometer weit entfernte Vilnius, blieb dort aber nicht lange. Zunächst kehrte der Vater, dann Abba Noar nach Kaunas zurück, bis Noar seine Mutter und seine beiden Brüder ebenfalls zurück holte.

Das Leben im Ghetto

Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung wurde die Familie nun in eines der beiden Ghettos in Kaunas interniert. Abba Noar war damals gerade 13 Jahre alt. „Wir dachten zuerst, dass das gar nicht so schlecht sei, denn die Litauer, die uns zu schikanieren begonnen hatten, konnten da ja nicht rein, wir waren also sicher“, erläutert Noar seine damaligen Gedanken. Doch es herrschte Not im Ghetto. Zu kaufen gab es nichts, Verpflegung gab es nur für „Arbeitsfähige“ und wer versuchte, außerhalb etwas zu erstehen, dem drohte die Todesstrafe. So erging es Abba Noars älterem Bruder. Er wurde erwischt und erschossen. „Hunger und Angst waren damals unsere ständigen Begleiter“, erzählt Noar.

Schließlich wurde eines der beiden Ghettos aufgelöst, die Bewohner zur Ermordung weggeführt. „Was übrig blieb, das war jetzt kein Ghetto mehr, sondern ein Lager“, sagt Noar. Es wurde still im jetzigen Lager. Einige junge Leute flohen in die Wälder und bewaffneten sich. „Das hat die Nazis offenbar beunruhigt, sodass sie eine Schule bauten, auch durften die Musiker im Lager wieder Konzerte geben – für die Machthaber und ihre Frauen, alles, um zu besänftigen und zu beruhigen. „Dann aber spielte plötzlich eine andere Musik“, erzählt Noar. Alte, Kranke und Kinder waren nicht mehr „brauchbar“, sie wurden selektiert. Noars Mutter, 38 Jahre alt, und der gerade einmal sechs Jahre alte Bruder wurden in der Gaskammer ermordet. „Ich weiß, dass es schwer ist, sich das anzuhören“, spricht Abba Noar die Schülerinnen und Schüler an, „aber es fällt mir auch immer noch schwer, darüber zu reden“, gesteht er. „Aber es darf doch nicht vergessen werden!“

Für Abba Noar und seinen Vater gab es letztendlich Rettung. Er kam nach Utting am Ammersee in ein Arbeitslager. „Da ging es uns verhältnismäßig gut“, sagt er. Aber ihn trieb die Sorge um seinen Vater um. Der sei vielleicht im berüchtigten Lager in Kaufering mutmaßte er und meldete sich freiwillig dorthin. Vergeblich, der Vater war nicht dort. „Zwölf Stunden mussten wir dort ohne Pause Fünfzig-Kilo-Säcke im Laufschritt transportieren, zu essen gab es einen Teller Suppe und eine Scheibe Brot. Vernichtung durch Arbeit, das war hier das Ziel.“ Am 24. April 1945 wurde Abba Noar dann auf den Todesmarsch von Dachau nach Waakirchen geschickt. Dort in der Nähe befreiten die Amerikaner am 2. Mai schließlich die Häftlinge.

Fragen an Abba Noar

Nachdem Abba Noar seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, hatten jetzt die Schüler Gelegenheit, Fragen an ihn zu stellen. So wollte etwa jemand wissen, ob es „auch ‚nette‘ Nazis“ gegeben habe. „Nicht alle haben geschlagen“, lautete Noars Antwort und er fügte hinzu: „Wir mussten ja arbeitsfähig bleiben.“

Ein anderer fragte: „Gab es Zeiten, wo Sie sich gewünscht hätten, zu sterben?“ Noar: „Niemals!“ Ob er heute noch Alpträume diesbezüglich habe, wollte jemand wissen. Die Antwort: „Nein, das habe ich nicht, aber das Lager ist doch immer noch nicht raus aus mir.“

Wie es nach der Befreiung weiter gegangen sei, wollte ein Schüler wissen. „Mein Vater und ich kehrten nach Litauen zurück. Das war inzwischen sowjetisch geworden und so wurden wir beide als Sowjetsoldaten verpflichtet.“ Da Vater und Sohn von diesem Umstand beide nicht angetan waren, suchten sie ein weiteres Mal ihr Heil in der Flucht. Auf Umwegen kamen sie schließlich nach München, wo der Vater auch blieb. Abba Noar hingegen trieb es fort. Er machte sich auf den Weg nach Palästina. In Israel lernte er seine Frau kennen, mit der er bis zu ihrem Tod 65 Jahre verheiratet war. Heute blickt er auf eine zehnköpfige Schar von Urenkeln.

Auf die Frage, wie es ihm bei dem Gedanken gehe, dass der Rechtsruck in Deutschland wieder stärker spürbar sei, sagte Noar: „Ich hoffe, dass die meisten von Euch nicht darauf achten und dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr geschieht.“

Eine Schülerin interessierte es, ob Abba Noar seinen Vater wieder gefunden habe. Noar: „Nicht ich habe ihn gefunden, aber er fand mich etwa drei Monate nach der Befreiung.“

„Es liegt an Euch!“

Abba Noar, der im März seinen 92. Geburtstag feiert, ist noch rüstig, wenngleich ihm sein Arzt von Vortragsreisen abrät und ihn ermahnt, dann doch wenigstens dabei zu sitzen. Nach Weilheim ist er von München selbst gefahren. „Es war ein bisschen windig“, räumt er ein, „aber sonst ging es gut.“ „Meine Cousine hat hier viele Jahre gelebt und sich sehr wohlgefühlt“, erzählt er. Viermal in der Woche ist er unterwegs, um in Schulen zu erzählen, was er erlebt hat. Verbittert ist er nicht. „Das Leben ist eine feine Sache“, lautet seine Devise. Und ganz wichtig: „Ich glaube an die Jugend von heute! Ich bin sicher, die Jugend wird dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschieht!“, ist er überzeugt- Und er mahnt: „Es liegt an Euch!“ Schließlich weiß er: „Was ich Euch erzählt habe, ist nicht meine Geschichte, es ist die Geschichte vieler Hunderttausender.“

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