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Ein Dorf unter Hitler

Pöckinger Historiker erforschen die Ortsgeschichte im Dritten Reich

Wilhelm Gaus (mit Gemahlin Lina) gab wegen den Nazis seinen Chefsessel bei BASF auf und wurde Bauer auf dem Schmalzhof. (Bild: Gemeindearchiv Pöcking)

Sich mutig seiner Geschichte im Dritten Reich zu stellen, auch wenn unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen: das hat die Gemeinde Pöcking vor drei Jahren beschlossen, als sie die renommierten ortsansässigen Historiker Professor Marita Krauss und Erich Kasberger beauftragten, das Buch „Ein Dorf im Nationalsozialismus – Pöcking 1930 bis 1950“ zu schreiben.

Wegen der Fülle des Stoffs entschloss sich das Ehepaar, es nicht bei einer Buchvorstellung zu belassen, sondern eine Vortragsreihe zu veranstalten. Beim Themenabend „Bauern und Villenbesitzer in Pöcking, Aschering und Maising“ war das Interesse mit fast 100 Zuhörern in der Gemeindebücherei riesengroß. Für Erich Kasberger ist die Ortschaft ein Musterbeispiel dafür, dass Geschichte nicht nur gut und böse, schwarz und weiß kennt. „Mit dem Begriff ‚das war ein Nazi‘ muss man sehr vorsichtig sein“, warnte er vor voreiligen Schuldzuweisungen. „Es gab alle Schattierungen von Grau.“

Im Laufe des Abends zeigte das Ehepaar anschaulich auf, wie sich mancher parteiloser Villenbesitzer tief im NS-Sumpf verstrickte, während offizielle NSDAP-Mitglieder mitunter nur dem Namen nach Nazi waren. Wie Bürgermeister Michael Ruhdorfer, der seine Position als Ortsgruppenleiter dazu nutzte, seine Hand schützend über jüdische Mitbürger zu halten. Er verhinderte Denunziationen und brachte den jüdischen Viehhändler Benzinger sicher durch das Dritte Reich. Bei den Landwirten im Dorf war es so, dass sie sich nicht viel aus der Partei machten - zu groß war ihr Unmut über Abgabekontrollen und Arbeitskräftemangel, weil die Männer im Krieg waren.

Hitlers Wissenschaftler

Ein vielschichtiges Bild mit überraschenden Ergebnissen zeichneten Krauss und Kasberger anhand der Biographien einiger prominenter Pöckinger, alle stolze Besitzer schöner Villen im Ort. Es gab einige Wissenschaftler und Industrielle, die ihre Arbeit für die fragwürdigen Zwecke der NSDAP in den Dienst stellten. Wie Eduard und Tony May, die als Institutsleiter im Auftrag Himmlers im KZ Dachau die biologische Kriegsführung vorantrieben: den Einsatz von malariainfizierten Stechmücken oder Pesterregern als Vernichtungswaffe. Dr. Otto Ranke forschte zum Aufputschmittel Pervitin, das als Wunderwaffe der Wehrmacht galt und die Soldaten im Blitzkrieg tagelang durchhalten ließ. Willi Heidinger produzierte als Direktor der Dehomag Millionen von Lochkarten, die natürlich auch zur jüdischen Personenerfassung genutzt wurden. „Ein genialer Wissenschaftler, der sich mit den Nazis tief eingelassen hat“, das ergaben die Recherchen zu Franz von Lawaczeck, der bis 1969 auf dem Enzianhof lebte, der heute zum Abriss freigegeben ist. Die Turbinen des erfindungsreichen Ingenieurs sind zum Teil heute noch in Betrieb. Gleichzeitig hielt Lawaczek gute Freundschaft zu den berüchtigten Nazis Hans Frank und Alfred Rosenberg und gab Hitler brieflich Tipps zum Endsieg.

Nazi-Gegner

Andere stellten sich entschieden gegen die NSDAP. So überließ Manfred Eichenmeyer, der Neffe des Pöckinger Wirts Clemens Poelt, sein Atelier der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Seiner Parteimitgliedschaft zum Trotz war der Chemiker und BASF-Boss Wilhelm Gaus ein scharfer Kritiker des NS-Regimes. Um mit den Nazis nichts mehr zu tun haben zu müssen, gab er alle Posten auf und zog sich als Erbhofbauer auf den Schmalzhof zurück.

Sind Sie auf Widerstand bei den Recherchen gestoßen, will eine Zuhörerin nach dem Vortrag wissen. Da schüttelt Marita Krauss den Kopf: „Wir haben viel Offenheit gefunden.“

Marie von Miller erinnerte sich, dass sie mit den Geschwistern immer lärmend ums Haus rennen mussten, wenn die Eltern heimlich den Feindsender BBC hörten – eine Vorsichtsmaßnahme war kein Wunder, denn die Nachbarn waren das oben erwähnte Biologen-Ehepaar May. Und ein 92-jähriger Machtlfinger erzählte, wie bitterarm damals alle waren und wie das Kruzifix im Klassenzimmer eines Tages durch ein Hitlerbild ersetzt wurde.

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