"Das Ende ist außer Sicht geraten"
Festivalleiter Matthias Helwig über gestohlene Zeit, Langeweile und das Immer Mögliche
"Die Zeit, die uns fehlt", ist das Motto des Fünf Seen Festivals vom 6. bis 15. September. Das Festivals wird zum 12. Mal gefeiert, doch zum erstan Mal haben die Macher es unter ein Motto gestellt: Zeit. "Zeit ist in unserer schnelllebigen Zeit ein großes Thema", sagt Festivalleiter Matthias Helwig und hat sich Zeit genommen, "Zeit-Fragen" von Johannes Beetz zu beantworten:
"Es ist nicht seine Welt"
Vor 150 Jahren wurde die Glühbirne erfunden – erst seit dieser relativ kurzen Zeit sind wir wirklich unabhängig vom Tageslicht und dem natürlichen Tagesablauf. Mit der ebenfalls in jener Ära aufkommenden Eisenbahn begannen wir, unser Leben minutengenau zu takten. Haben wir damit einen natürlichen Rhythmus aufgegeben und welche Folgen hat das?
Matthias Helwig: Ich glaube, dass das vielleicht der Beginn war, aber dass die wirkliche Aufgabe des natürlichen Rhythmus sich erst mit der Digitalisierung eingestellt hat. Mit der globalen Rundum-Verfügbarkeit. Das ist eine Dimension, die nicht in den Menschen hineingelegt ist. Es ist nicht seine Welt. Das menschliche Maß ist zunächst in der Bewegung das Gehen und im Erfassen das Gespräch mit dem Gegenüber oder das einzigartige Erlebnis. Heutzutage sind wir - und es wird auch gefordert - multi-tasking-fähig. Wir sprechen mit verschiedenen Leuten gleichzeitig und informieren uns fast zeitgleich über unzählige andere Ereignisse. Da wir aber - natürlich - nur nacheinander alles abarbeiten können, also immer noch linear sind, wird das einzelne Event in einen immer kürzeren Abschnitt hineingepackt. Der Mensch bekommt Stress, wie man heute sagt. Ob er sich dem allem wirklich anpassen kann, werden zukünftige Generationen entscheiden.
"Es ist das Unwichtige, das stört"
Welche Dinge stehlen uns bzw. Ihnen am meisten Zeit?
Matthias Helwig: Es gibt einen schönen Satz in Arthur & Claire. Josef Hader erzählt da, was er am meisten hasst: 1. Sinnlose Mails, 2. Staubsauger und ... sinnlose Mails. Seine Partnerin sagt darauf: Das hast du schon einmal gesagt. Und er: Das kann man nicht oft genug betonen.
Genauso sehe ich es. Oder es sind gar nicht die Mails, sondern das Unwichtige, das mich stört, gerade je älter ich werde. Diese "Zeit" hat damit zu tun, sich mehr und mehr auf das Wesentliche konzentrieren zu wollen. Natürlich muss dafür erst das Wesentliche herausgefunden werden. Das ist für jeden anders. Für mich ist es sicher die persönliche Beziehung, immer wieder, meine Kinder, meine Familie. Es gibt nichts Schöneres, als sein Kind zu sehen, wie es wächst oder wie es ist.
"Jede Generation muss sich entscheiden"
„Soziale“ Medien sind privat große Zeitfresser geworden, die wir bereitwillig füttern. Ist das ein qualitativ neues Phänomen oder „vergeuden“ wir unsere Zeit nur mit anderen Spielzeugen als früher?
Matthias Helwig: Sie haben mehr Suchtcharakter. Ein Spiel ist - wenn man nicht Spieler ist - irgendwann zu Ende. Das Ende ist außer Sicht geraten. Ich persönlich habe mich privat gegen die sozialen Medien entschieden, muss aber geschäftlich mit ihnen arbeiten. Man muss mit der Zeit gehen, wie es so schön heisst. Das hat schon jede Generation für sich entscheiden müssen, was das bedeutet. Für die nächste Generation war das dann keine Frage mehr. Sie hat sich angepasst.
"Es ist etwas ganz Natürliches"
Auch Langeweile kann stressig sein. Man muss es lernen, sie auszuhalten. „Nichtstun“ ist zudem verpönt. Kreativität braucht aber diese unverplante, nicht getaktete Zeit. Welchen Wert hat „Langeweile“?
Matthias Helwig: Einen sehr hohen. Wenn ich Menschen in meiner Generation frage, dann blicken sie auf öde Nachmittage in ihrer Jugendzeit zurück. Aber sie haben irgendwann Kreativität ausgelöst. Für Gedanken und "Schöpfungen" braucht man zuerst Ruhe und Besinnung, von außen als Langeweile angesehen. Der Moment ist lang, aber in ihm passiert immer etwas. Langeweile ist in der heutigen Zeit falsch konotiert. Im Prinzip sagt sie ja nur, dass ein Moment gedehnt wird oder gedehnt erscheint, etwas ganz Natürliches also.
"Schauen, was wirklich wichtig ist"
Eine Schlüsselfrage unserer Gesellschaft ist, wie sich Familie und Beruf zusammenbringen lassen. Das ist ja letztlich vor allem eine Zeitfrage – und die wird oft mit Zeitmanagement beantwortet. Kann man Zeit „managen“ oder schraubt man da nur an Symptomen? Oft spricht man von "Multitasking": Was heute als "Skill" gilt, nannte man früher schlicht "Vierteilen" - das ging immer nur über eine recht überschaubare Zeitspanne gut ...
Matthias Helwig: Da haben Sie recht. Mehr lässt sich eigentlich nicht dazu sagen. Man muss immer wieder schauen, was wirklich wichtig ist. Es wird immer davon gesprochen, was an Zeit fehlt oder was einem an Zeit genommen wird. Anders herum gesehen entsteht Zeit durch eine Gewichtung der Aufgaben oder Bedürfnisse. Ich gewinne Zeit in der Familie oder in der Arbeit. Josef Bierbichler hat in einem Interview gesagt, was für ihn Arbeit ist. Die ist nicht seine Kunst oder die Zeit, die er darauf verwendet, auch nicht das Holzhacken, das schon gar nicht, sondern es ist das, was er nicht will. Das ist für ihn die Maloche. Und wenn wir über all die Schwierigkeiten mit dem Zeitmanagement reden, reden wir nicht dann davon, dass wir etwas tun, was wir eigentlich gar nicht tun wollen?
"Sie muss aus der Fülle auswählen"
Handys haben die ständige Verfügbarkeit von Arbeitnehmern mit sich gebracht. Die Digitalisierung der Arbeitswelt wird womöglich die früher feste Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit weiter aufweichen. Welche Entwicklungen sehen Sie auf die nächste Generation zukommen?
Matthias Helwig: Sie muss aus der Fülle auswählen. Sie hat es darin schwerer als wir es hatten. Sie hat alle Möglichkeiten, aber sie muss sich ständig entscheiden. Sie muss Nein sagen, wo wir auswählen konnten. Aber sie wird ihren Weg finden und sich anpassen. Sie wird die Vorteile nutzen, in anderen Büros arbeiten, etcetera und vielleicht sogar gerade dadurch das schlechte Zeitmanagement von uns verbessern können. Der Raum wird aufgelöst. Aber das ist Thema des nächsten Fünf Seen Filmfestivals.
"Die Welt geht nicht unter"
Jeder hat am Tag 24 Stunden, jeder hat die gleiche Zeit. Wer „keine Zeit hat“, setze nur die falschen Prioritäten, sagt man. Das stimmt, hilft aber nicht weiter, wenn man im Beruf oder privat unter Zeitdruck steht. Wie schaffen Sie sich kurze Zeitinseln oder Auszeiten?
Matthias Helwig: Es ist immer alles möglich, jederzeit. Das muss man im Hinterkopf wissen. Man kann sich immer eine Auszeit nehmen. Was in Filmen immer wieder mal gezeigt wird, einfach das Weggehen aus dem Alltag, das kurzzeitige Verlassen, die Pause, ist möglich. Es erfordert nur Kraft, dies zu sehen. Die Unbedingtheit einer Arbeit oder eines Auftrages ist nur scheinbar. Die Welt geht nicht unter, wenn mal etwas nicht sofort passiert. Ich bin in der Festivalvorbereitung mit meinem Sohn drei Wochen ans Nordkapp gefahren. Eigentlich ein Unding. Aber es war ein Geschenk zu seinem Abitur und für mich eine nötige Auszeit. Dadurch habe ich auch wieder viel mehr über mich oder meine eigentliche Arbeit erfahren. Natürlich falle auch ich wie jeder andere in diesen Zeitmechanismus zurück, aber es bleibt die Aussage: Es ist immer alles möglich.
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