Gegen das Vergessen
Als der Todesmarsch durch Starnberg führte
Die Erinnerung an die Opfer des NS-Regimes darf nicht verblassen, auch wenn das Coronavirus die geplanten Gedenkfeiern anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung der Konzentrationslager und des Kriegsendes verhindert. Eine Gedenkstätte steht in Starnberg vor dem Landratsamt, identische Skulpturen des Künstlers Hubertus von Pilgrim befinden sich an anderen Stationen entlang des berüchtigten „Todesmarsches“. Dort schleppte sich im April 1945 ein Zug von fast 7.000 Häftlingen vorbei, der von der SS vom Konzentrationslager Dachau aus über verschiedene Routen Richtung Alpen getrieben wurde. Das genaue Ziel ist bis heute nicht bekannt, auch wenn es wohl die nicht existente „Alpenfestung“ in Tirol gewesen sein soll. Eine Hauptstrecke ging über das Würmtal über Leutstetten und Starnberg, Aufkirchen nach Wolfratshausen und weiter. Etwa die Hälfte der Häftlinge starb durch Hunger, Entkräftung sowie Ermordung durch die Nazi-Schergen. Der Rest wurde am 2. Mai in der Nähe von Bad Tölz befreit.
Ein seltsames Klappern
Um die Befreiung der Dachauer Häftlinge zu verhindern, schickte die SS sie ab dem 22. April auf den Todesmarsch. Für einen Großteil der Bevölkerung in der Region war es das erste Mal, dass sie mit den Verbrechen der Nazis an den KZ-Häftlingen konfrontiert wurden, zog doch die lange Kolonne der Elendsgestalten direkt durch die Ortschaften. Viele Dorfbewohner hörten schon von weither ein ungewohntes Geräusch, das sie als seltsames, monotones Klappern beschrieben. Doch was sie anfangs für das Trappeln von Pferdehufen hielten, stellte sich als das Geklapper der Holzpantinen der halb verhungerten und nur notdürftig vor Kälte und Schneetreiben geschützten Gefangenen heraus, begleitet von dem Knallen von Schüssen und dem Geschrei der Wachen. Wer zurückblieb, wurde niedergemacht oder tot liegengelassen. Fotodokumentationen gibt es von dem Elendszug so gut wie keine. Einer der wenigen, der damals eine Kamera besaß und die Geistesgegenwart und den Mut hatte, heimlich durch den Balkon seines Elternhauses zu fotografieren, war Benno Gantner aus Percha.
So reagierte die Bevölkerung
Die Einwohner der Dörfer waren von Schrecken, aber auch Mitleid ergriffen. In Dorfen bei Höhenrain etwa steht ein Bauernhaus dicht am Straßenrand. Hier berichtet das Heimatbuch, dass die vorbeiziehenden Verzweifelten schon seit dem Morgengrauen an das örtliche Fenster klopften und die Bauersfrau immer wieder das Fenster öffnete und herausgab, was sie hatte. Brot, Milch und Kaffee wurden auch andernorts gereicht, auch wenn die SS-Leute die barmherzige Geste bei Strafandrohung zu verhindern suchten und auf die Häftlinge mit Gewehrkolben einschlugen.
Einer der wenigen Holocaust-Überlebenden ist der 92-jährige Abba Naor, der trotz seines hohen Alters nicht müde wird, in die hiesigen Schulen zu gehen und die Jugendlichen über den NS-Terror aufzuklären. Die Erinnerungen an den Todesmarsch haben sich bis heute in ihm eingebrannt. Zum Schluss sei er so schwach gewesen, dass er nicht einmal mehr seinen einzigen Schutz, zwei durchnässte Decken, hätte tragen können. Als es keine Verpflegung mehr gab, habe er vor Verzweiflung Gras aus dem Boden gerupft und gegessen, schreibt er in seinem Buch „Ich sang für die SS“. Sein Leidensweg war erst zu Ende, als die Amerikaner mit ihren Panzern den Zug einholten und die Geschundenen befreiten.
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