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"Wir kämpfen praktisch um jeden Azubi"

Stellen verwaisen: Es wird zunehmend schwierig, Fachkräfte zu finden

So sieht es aus: Der „Fachkräftemonitor“ des BIHK analysiert und prognostiziert den Fachkräfteengpass für die Region München / Oberland. Trotz Schwankungen werden in den kommenden Jahren immer mehr Fachkräfte gesucht (blaue Linie). Gesucht werden insbesondere beruflich Qualifizierte (orange Linie), nicht Akademiker. Helfer (grüne Linie) auch künftig allenfalls am Rande gefragt sind. (Bild: BIHK)

Drei geniale Erfindungen haben unsere Ahnen in steinzeitgrauer Höhlenvorzeit gemacht: das Feuer, das Rad - und die Fachkraft.

Wer sich den ganzen Tag mit dem Nähen von Fellschuhen beschäftigen konnte, weil er nicht mehr jagen und sammeln musste, konnte bessere Fellschuhe als alle anderen machen. Wer den ganzen Tag an seinem Unterschlupf werkeln konnte, weil er sich nicht mehr um Ackerbau und Viehzucht zu kümmern hatte, dessen Hütte wurde stabiler und behaglicher. Wer den ganzen Tag an der Feuerstelle probieren konnte, was sich für die Suppe eignet, dessen Abendessen wurde viel bekömmlicher.

Als es plötzlich Schuster, Bauarbeiter und Köche gab, konnte jeder Einzelne spürbar besser leben. Vielleicht konnte deswegen der Neandertaler nicht gegen unsere nachrückenden Vorfahren bestehen: Als "Alleskönner", der alle existentiellen Grundlagen beherrschte, hatte er zwar - Hut ab! - eine bitterkalte Eiszeit durchgestanden, stand indes auf verlorenem Posten gegen Spezialisten, die sich gegenseitig unter die Arme greifen: Die Fachkräfte setzen sich mit Leichtigkeit durch.

Kein Frühstücksbrötchen ohne Fachkräfte

Ohne Fachkräfte wäre unser Leben nicht mehr denkbar. Keine heiße Dusche ohne Sanitär- und Heizungsbauer, kein Kaffee und Frühstücksbrötchen ohne Einzelhändler, Bäcker und Speditionslogistiker, kein schneller Weg zu Schule und Job ohne Straßenbauingenieure und Busfahrer. Noch bevor wir morgens selbst in der Arbeit sind, haben wir vom "Gewusst wie" unzähliger Fachkräfte profitiert.

Ihnen verdanken wir einen funktionierenden Alltag und einen boomende Wirtschaft (je weniger wir davon bemerken, umso besser haben sie gearbeitet). Doch seit Jahren stimmt etwas nicht mehr: Fachkräfte fehlen in immer mehr Berufen. Was ist da los?

Es fehlen Bewerber

"Die Betriebe kämpfen seit Jahren praktisch um jeden Azubi", beschreibt Eberhard Sasse die Lage. Er ist Präsident des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags (BIHK). Für das abgelaufene Jahr verzeichnet dieser zwar eine hauchdünnes Mehr an neuen Auszubildenden in Bayern (insgesamt 53.380 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge - 0,4 Prozent mehr als 2016) verweist aber auch drauf, dass wie in den Vorjahren viele Lehrstellen mangels Bewerber unbesetzt blieben: Die Arbeitsagentur spreche von fast 15.000 unbesetzten Ausbildungsplätzen.

Warum ist das so?

"Der Arbeitsmarkt ist leergefegt", stellt Franz Xaver Peteranderl (Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern) fest. Betriebe und Branchen jagen sich inzwischen gegenseitig Fachkräfte ab.

Unter anderem zwei Gründe hat der gegenwärtige Mangel:

Zum einen boomt die Wirtschaft und die Arbeitslosenquote ist sehr gering. Die allermeisten Fachkräfte haben also schon einen Job.

Zum anderen macht sich der demographische Wandel bemerkbar: Wenn es weniger junge Leute gibt, sinkt zunächst die Zahl der Auszubildenden und dann die Zahl der Erwerbstätigen – das Reservoir an Fachkräften wird kleiner und es wird nicht mehr aufgefüllt.

Ein halbes Jahr suchen

Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die einen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland bestreitet, weist in ihrer Fachkräfteengpassanalyse vom Dezember 2017 in sieben von acht untersuchten Berufsfeldern in Bayern dann doch einen Mangel nach. Beispiel Altenpflegefachkräfte: "In keinem Bundesland stehen rechnerisch ausreichend arbeitslose Bewerber zur Verfügung, um damit die gemeldeten Stellen zu besetzen", heißt es in der Analyse. Im Schnitt sind diese Stellen 171 Tage vakant – heißt: wer eine Pflegekraft braucht, sucht fast ein halbes Jahr vergeblich.

Jede 20. Stelle ist schon verwaist

Auch Handwerk und Unternehmen klagen: "Der Fachkräftemangel bremst die bayerische Wirtschaft massiv. Betriebe müssen Aufträge verschieben oder ablehnen, weil die Kapazitäten nicht vorhanden sind. So entgeht Oberbayern eine Wirtschaftsleistung von schätzungsweise 7,6 Milliarden Euro im Jahr", rechnet Peter Driessen (Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags) vor.

Im bayernweiten Vergleich ist Oberbayern dabei am ärgsten vom Personalengpass betroffen. Hier fehlen 89.000 Fachkräfte. Bis 2030 wird die Lücke in Oberbayern auf 155.000 Personen anwachsen.

Aufgrund dieses Engpasses können bereits jetzt 5,2 Prozent aller in der Region angebotenen Arbeitsplätze für Fachkräfte nicht besetzt werden: Eine von 20 Stellen ist jetzt schon verwaist.

Der Mangel ist längst in vielen Bereichen zu spüren, die die Bürger direkt betreffen, z.B. bei den Schulen: "Es gibt viele Schulen, die händeringend nach Lehrkräften oder auch Schulleitungen suchen, diese aber nicht finden", berichtet Simone Fleischmann (Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes). U.a. fehlen bereits in den Grundschulen Lehrer.

Schafft Wohnraum!

Aber wo sollen die benötigten Fachkräfte herkommen? Insbesondere Berufsanfänger können sich im Ballungsraum kaum die hohen Mieten leisten, geschweige denn an die Gründung einer Familie denken.

"Bezahlbarer Wohnraum wäre also ein probates Mittel gegen den Nachwuchs- und Fachkräftemangel", sagt Franz Xaver Peterandel (Handwerkskammer). Hier sollten die Landeshauptstadt und die Städte und Gemeinden im Umland enger zusammenarbeiten. Doch in München fehlen Flächen und die Unternehmen ziehen beim Werkswohnungsbau nicht wirklich mit. Neue Ansätze wie Lehrlingsunterkünfte und Handwerkerappartements oder Belegungsrechte für kommunale Unternehmen reichen nicht aus. "Auch muss der Ausbau von Internaten in der Nähe von Berufsschulen oder überbetrieblichen Ausbildungsstätten dringend forciert werden", betont Johannes Lock von der Kfz-Innung München-Oberbayern.

Das Potential ausschöpfen

Auch bei der Ausbildung sind neue Wege gefragt: Die Agentur für Arbeit Weilheim (sie ist u.a. auch für den Kreis Starnberg und Germering zuständig) fördert u.a. die Ausbildung in Teilzeit: Wer eigene Kinder betreut oder Angehörige pflegt, soll so eine Ausbildung machen können. In Teilzeit ausbildende Unternehmen gelten wegen ihrer sozialen Einstellung als familienfreundlich und können mit diesem Image um Fachkräfte werben, hofft die Agentur.

Neue Chancen erkennen

"Die Ausbildung ist einer der wichtigsten Grundpfeiler unserer wirtschaftlichen Stärke“, mahnt Eberhard Sasse. "Wir alle müssen uns noch mehr auf die duale Berufsbildung als bestes Sprungbrett in die Karriere zurückbesinnen!"

"Die Option eines Abiturs mit Studium ist für viele selbstverständlich geworden", beklagt Thomas Kürn (IHK für München und Oberbayern), "das ist ein Fehler. Niemand sollte sich zum Abi oder gar zum Studienabbruch quälen müssen, um dann zu erfahren, dass die Wirtschaft in erster Linie keine Akademiker sucht!"

"Flüchtlinge sind eine wichtige Stütze"

Vor allem die Flüchtlinge geben der Ausbildung derzeit einen Schub. 2017 traten in Bayern rund 2.700 Jugendliche mit diesem Hintergrund eine Lehre an, das waren fünf Prozent aller neuen Azubis. "Ohne Flüchtlinge und Einwanderer wäre die Ausbildungsbilanz mit einem dicken Minus äußerst besorgniserregend ausgefallen. Sie sind eine wichtige Stütze", sagt BIHK-Präsident Eberhard Sasse.

 

In dieser Ausgabe finden Sie viele Beiträge, die den Wettbewerb um Fachkräfte und die Folgen für uns alle aufgreifen.

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