"Kinder haben keine Berührungsängste"
Grundschüler lernen beim Inklusionstag den Alltag mit Behinderung kennen
„Ich bin damit öfter angestoßen, außerdem macht er viel Lärm“, meint die Schülerin Leila im Abschlusskreis. Die Viertklässlerin hat es zum ersten Mal ausprobiert, mit einem Blindenstock zurechtzukommen. „Es fühlte sich komisch an“, findet auch ihre Mitschülerin Iriana und kann sich vorstellen, was für ein Riesenproblem Blinde damit haben, ein herannahendes leises Elektroauto zu bemerken. Bein landkreisweiten Ersten Inklusionstag waren die Pöckinger Grundschulklassen 4a und 4b mit ihren Lehrerinnen Tina Bär und Julia Schwendy im Pöckinger Beccult zu Gast.
Alltag verstehen lernen
Der Aktionstag, eine Zusammenarbeit zwischen dem Koordinierungszentrum für Bürgerschaftliches Engagement (KoBE) der Caritas Starnberg und der Offenen Behindertenarbeit (OBA) ist ein Teil des vom Bayerischen Sozialministerium geförderten Gesamtprojekts „Inklusives Ehrenamt“. Es geht um die gesellschaftliche Teilhabe, um den Abbau von Barrieren und darum, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammenkommen. Dabei gibt es ein konkretes Ziel: „Menschen mit Einschränkungen in ehrenamtliche Engagements zu vermitteln, damit sie zum Beispiel am Vereinsleben teilhaben können“, erklärt Simone Berger (KoBe). Ein Teil des Projekts ist die Sensibilisierung der Menschen im Landkreis. Und dabei mit den Jüngsten anzufangen, ist eine sehr sinnvolle Sache. Nicht nur, weil es in Corona-Zeiten mit verschärfter Hygieneregeln im festen Klassenverband noch am einfachsten ist, so einen Inklusionstag durchzuführen. „Kinder sind sehr aufgeschlossen“, erklärt Veronika Seidl von der Caritas. „Je früher man ihnen vermittelt, dass Menschen mit Behinderungen nichts Exotisches sind, sondern genau so wie alle anderen ein wertvoller Teil der Gesellschaft, desto besser.“
Vier Stationen
Vier Stationen sind im Beccult aufgebaut. Hier lernen die 50 Kinder den oft sehr mühsamen Alltag von behinderten Menschen kennen und damit besser verstehen. Eine Station für körperliche Einschränkungen mit einem Rollstuhl-Parcours, eine für kognitive Einschränkungen und Lernbehinderungen, eine für Hör- und eine für Sehbehinderungen. Claus Angerbauer zeigt den Schülern und Schülerinnen, wie die Braille-Blindensprache funktioniert und übt zusammen mit ihnen das Gehen mit einem Blindenstock. Langsam und vorsichtig tasten sich die Viertklässler vorwärts. „Bei Kindern kann man viel erreichen“, sagt der Vorsitzende der Arge und sehbehinderte Wesslinger Musiker und Gemeinderat. Die Vorurteile in der Gesellschaft machten Menschen mit Behinderungen immer noch zu schaffen. „Früher hieß es, ein Blinder, der kann doch nix“, erklärt Angerbauer. „Aber es geht darum, zu zeigen, dass das Leben mit Behinderung nicht nur Nachteile hat.“ Er zum Beispiel könne voll am Leben teilhaben und trotz seiner Sehbehinderung sogar Alpinsport betreiben. „Und wie man als Blinder auf Skiern den Berg runterfährt, das erzähle ich den Schülern seit vielen Jahren“, meint er verschmitzt. Viele Menschen seien sich gar nicht bewusst, dass das Schicksal jeden treffe könne. Er selber sei als junger Mann mit 30 Jahren erblindet.
Mehr Bewusstsein
Anna Krott war sogar noch ein Kind, als sie die Diagnose Hörbehinderung erhilet. „Ich bekam mit vier Jahren die Masern, und die haben meine Schwerhörigkeit verursacht“, sagt die Gilchinger Ohrmuschel-Gründerin. An ihrer Station zeigt sie den Kindern die Fingeralphabet-Karten und die Gebärdensprache. Die Viertklässler sind mit Feuereifer dabei, nach ein paar Minuten haben sie schon einige Wörter in der Gebärdensprache drauf. „Das ist besser als jede Deutschstunde“, meint Sozialpädagogin Angela Merkle-Wied. Den Kindern sei an diesem Vormittag im Umgang mit Menschen mit Handicap viel bewusst geworden. Etwa, dass sie bei Claus Angerbauer nicht einfach wortlos vom Tisch aufstehen und weggehen können, weil er es nicht merken würde, oder dass sie bei Anna Krott die Maske abnehmen müssen, damit sie ihnen von den Lippen ablesen kann. Oder dass sich viele Menschen mit Schachtelsätzen schwer tun. Und Leila und Patrizia aus der 4a haben es ganz praktisch ausprobiert, wie mühsam es ist und wie viel Kraft es kostet, den geschotterten Vorplatz vom Beccult im Rollstuhl zu überqueren. Im nächsten Jahr soll das Inklusionsmobil noch viele weitere Male im Landkreis Halt machen.
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