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Bunkergeschichten

Letzter Besuch im legendären Schlaflabor

Haben gemeinsame Erinnerungen an die Bunkerzeit: Hartmut Geerken (v.l.), Professor Jürgen Zulley und David Carr. (Bild: Hauck)

Es ist mehr als 30 Jahre her, dass Hartmut Geerken zum letzten Mal in dieser fensterlosen Zelle stand. Er war einer der Probanden, die sich für Versuchszwecke in dem unterirdischen Schlaflabor des Max-Planck-Instituts einschließen ließen. Die Taschenlampen der Besucher werfen ihren Lichtkegel auf die marode Dusche, das vergilbte Grün der Küchenschränke, den uralten Kasten mit der Klimaanlage und die nackten Betonwände. Der Zahn der Zeit hat ausgiebige Spuren in dem Mini-Zimmer hinterlassen, das damals immerhin noch mit Bett, Tisch, Stuhl, Teppich und Trimmdich-Fahrrad ausgestattet war. Doch Geerken lässt sich davon nicht abschrecken. „Es fühlt sich heimisch an“, sagt er. „Mir ging es damals richtig gut hier.“

Noch einmal öffnete sich der vor Jahrzehnten aufgegebene Schlafbunker, bevor auf dem ehemaligen Erlinger Institutsgelände Wohnungen und Häuser gebaut werden sollen. Die Natur hat längst das einstige Mekka der Schlafforschung zurückerobert, der enge Eingang in den Hügel ist fast überwuchert. Auch der ehemalige Versuchsleiter Professor Jürgen Zulley, heute einer der bekanntesten Schlafforscher, ist für eine Veranstaltung des „Literarischen Herbsts“ noch einmal zurückgekehrt. Aus erster Hand erfahren die Besucher von den legendären Experimenten, die sein Chef hier betrieb. Professor Jürgen Aschoff gilt als der Entdecker einer wissenschaftlichen Sensation, der „inneren Uhr“ des Menschen. Er ging der Frage nach, wie sich Menschen verhalten, wenn ihnen jeder Hinweis auf die Uhrzeit fehlt. Wann schlafen, wachen, arbeiten und essen sie, wenn sie nur auf ihren Körper hören?

Die Freiwilligen wurden vier Wochen und länger in die in den Hügel gebauten Zellen mit den meterdicken Wänden eingeschlossen. „Das war aber kein alter Wehrmachtsbunker“, räumt Zulley mit einer immer noch weitverbreiteten Behauptung auf. „Die Anlage wurde 1960 eigens dafür gebaut.“ Übrigens mit Geldern der NASA, die von den Erkenntnissen für ihre Weltraumflüge profitieren wollte.

Irre Bedingungen

Kein Fenster, keine Uhren, kein Radio, kein Telefon: Die Freiwilligen lebten vollständig abgeschirmt von der Außenwelt ohne einen Hinweis auf die Uhrzeit. Kommunikation war nur mithilfe von Zetteln möglich, die in eine Art „Schleuse“ gelegt wurden, ansonsten herrschte vollständige Isolation. Manchmal befahl die Versuchsanordnung wochenlanges Dauerlicht, manchmal konstante Dunkelheit.

Wer heute von den irren Bedingungen der von 1964 bis 1989 laufenden Experimente hört, schüttelt meist den Kopf. Doch der Herrschinger Helmut Geerken hat seinen Aufenthalt genossen, wie die meisten anderen Teilnehmer übrigens auch. „Ich habe den Bunker als einen Ort der Sicherheit und des Schutzes empfunden“, versichert er glaubwürdig. Er habe die Zeit dazu genutzt, ein Buch zu schreiben und sich chinesisch kochen beigebracht. Unter den Teilnehmern seien viele Studenten gewesen, die in Ruhe ihre Doktorarbeit verfassen wollten, außerdem habe es 30 Mark am Tag gegeben, ergänzt Zulley. In all den Jahren habe es nur verschwindend wenige Versuchsabbrecher gegeben. Sie quälte aber nicht der Lagerkoller, sondern die Eifersucht wegen eines vermeintlich untreuen Partners.

Unglaubliche Geschichten

Im Laufe des Nachmittags hielt Zulley seine Zuhörer mit Anekdote um Anekdote bei Laune. Während sich eine Bewohnerin zum Beispiel nur bescheiden Blumenkohl zum Essen bestellte, kannten ihre Zellennachbarn kein Maß. Die zwei Studenten orderten täglich zwölf Eier, Kalbsschnitzel und den teuersten französischen Käse. Unter der Anrede „Verehrte Bunkerinsassen“ wurden sie von Aschoff angesichts der strapazierten Institutskasse zur gutbürgerlichen Küche zurückbefohlen und dazu angehalten, nach ihren Festgelagen nicht ständig todmüde ins Bett zu sinken. Anfangs sei auch Bier erlaubt worden. Aber nur solange, bis das erste Trinkgelage stattfand, weil die Flaschen gehortet worden waren. Und anstatt froh über das Ende des Aufenthalts zu sein, war einmal ein Doktorand ganz aus dem Häuschen vor Ärger. Denn er war mit seiner Prüfungsvorbereitung nicht fertig geworden. Denn ohne die Uhr zur Kontrolle hatte er sich schlicht viel zu lange für sein Pensum gebraucht.

Beste persönliche Erinnerungen an den Bunker hat dagegen David Carr. Der Australier war Ende der 1970er Jahre in Europa unterwegs und erfuhr über einen Kumpel von den lockeren Jobs als Betreuer im Schlaflabor. Was als kurze Station zur Aufbesserung der Reisekasse gedacht war, sollte sich als Daueraufenthalt in Deutschland erweisen – schon weil er eine Woche nach Arbeitsantritt seine spätere Ehefrau kennenlernte - Elisabeth Carr, die Mitveranstalterin des „Literarischen Herbsts“.

 

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