"Es gibt keine Ausreden"
Aufrüttelnde Ansprachen beim Gedenken an die Reichspogramnacht
Diesmal war die Stimmung noch ein bisschen ernster als sonst. Die Redner wie Rainer Hange, Stefan Koch und Martina Neubauer vom Starnberger Dialog sowie Bürgermeisterin Eva John und Vize-Landrat Georg Scheitz mit Grußworten fanden einmal mehr glaubhafte, bewegende, aufrüttelnde Worte und warnten vor Judenhass. Rund hundert Bürger waren zur Kundgebung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gekommen, als1400 jüdische Bethäuser brannten, tausende Geschäfte geplündert und 400 Juden ermordet wurde.
„Ich hätte nicht geglaubt, dass in unserer heutigen Zeit so etwas möglich wäre“, bekannte etwa Vize-Landrat Georg Scheitz bei der Veranstaltung auf dem Kirchplatz. Wie alle Anwesenden stand er noch sichtbar unter dem Eindruck des Anschlags auf die Synagoge in Halle im Oktober. „Mich macht das fassungslos, dass kaum ein Tag vergeht, ohne dass man von antisemitischen Reden und Handlungen hört.“ Mehrfach fielen erschreckende Zahlen aus einer Studie, wonach 25 Prozent der Deutschen den Holocaust für wiederholbar und 40 Prozent den Antisemitismus für nicht so schlimm halten. Engagiert und beherzt trat Sabine Leutheuser-Schnarrenberger ans Mikrofon. „Wer AfD wählt, weiß, wen er wählt, da gibt es kein Rausreden“, machte die frühere Bundesjustizministerin deutlich. Als sie zur Verteidigung der jüdischen Mitbürger aufrief, die in Deutschland nur eine Minderheit von 98.000 ausmachen, brandete spontaner Applaus auf.
Betroffenheit
„Es brennt“ ist das ergreifende Lied vom in Flammen stehenden Schtetl, das heute in Israel zu jedem Holocaust-Gedenktag erklingt. Als es der jüdische Kantor Nikola David auf dem nächtlichen Kirchplatz anstimmte, war vielen Teilnehmern die emotionale Bewegung anzusehen.
Die Betroffenheit verstärkte sich noch, als die Historikerin und Autorin Dr. Friederike Hellerer anhand zweier lokaler Biografien jüdische Schicksale aufzeigte. Der Starnberger Rechtsanwalt Robert Held wurde schon vor 1933 zur verhassten Zielscheibe des antisemitischen Bürgermeisters Franz Buchner. Helds Namensschild wurde zerkratzt und zertrümmert, sein Hund vergiftet, Passanten spuckten vor ihm aus. Nach einem fast tödlich verlaufenden Angriff emigrierte er 1934 in die USA, um nach dem Krieg nach Starnberg zurückzukehren, wo er 1977 starb, nachdem die „Restitutionsansprüche von der Bundesregierung nur widerwillig erfüllt wurden“, wie Hellerer berichtete.
Aus Sorge um die Sicherheit
Nicht alle hatten so viel Glück wie Held, fuhr die Herrschinger Archivarin fort. Und erzählte die Geschichte eines Mannes mit dem Pseudonym „Herr Kaufmann“. Der angesehene, aus Mainz stammende Jude hatte sich nach einigen Sommerfrischen 1927 eine Villa am See gekauft. Im April 1943 wurde er – offensichtlich nach einer Denunziation - von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er im Januar 1944 starb. Es scheiterte, den Denunzianten nach dem Krieg zur Rechenschaft zu ziehen. „Sie fragen sich, warum ich von Herrn Kaufmanns Schicksal anonym berichte“, wandte sich Hellerer an die Umstehenden, nur um selbst die bestürzende Antwort zu formulieren: „Sein Enkel bat mich darum, aus Sorge um seine Kinder.“ Und sie endete: „Das ist die Wirklichkeit im Landkreis Starnberg 2019.“
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