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Sich im Alltag besser zurechtfinden

Grundbildung: Die Münchner Volkshochschule hilft Lücken zu schließen

Tobias Bumblat: "Mit Unwissen in Mathe zu kokettieren, wird in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert." Wer sich beim Lesen und Schreiben schwer tue, gelte hingegen als dumm." (Bild: job)

Hand aufs Herz: Sie beherrschen die Grundrechenarten und vielleicht sogar den Dreisatz? Aber können Sie auch noch das Volumen einer Kugel oder die Nullstelle einer linearen Funktion berechnen? Wenn Sie "Das ist alles weg" antworten, geht es Ihnen mit Ihrem Mathe-Schulwissen wie vielen anderen Menschen und niemand sieht Sie schräg an, wenn Sie Ihr Nicht-Wissen gestehen. "Mit Unwissen in Mathe zu kokettieren, wird in allen Gesellschaftsschichten akzeptiert", meint Tobias Bumblat von der Münchner Volkshochschule (MVHS). Völlig anders ist das beim Lesen und Schreiben: Wer hier Lücken erkennen lässt, wird schnell als ungebildet abgestempelt.

Wie lese ich einen Fahrplan?

Bumblat leitet das Fachgebiet Alphabetisierung und Grundbildung der MVHS, die seit über 20 Jahren etliche Möglichkeiten anbietet, solche Lücken zu schließen. Dabei geht es längst nicht nur um Lesen und Schreiben. "Das ist nur der Einstieg", sagt Bumblat, "die Palette ist viel breiter." Die Vhs bietet Kurse zu EDV, Englisch, Gesundheit, Ernährung und ähnlichen Alltagsdingen an.  Wie lese ich einen Fahrplan? Wie unterstütze ich meine Kinder in  der  Schule? Wie ziehe ich mein Kind im Winter an? Wie fülle ich Formulare richtig aus? Wie lese ich Elternbriefe? Wie schreibe ich Mails? "Es geht um solche für uns vermeintlich klare Fragen", sagt Bumblat, "wir geben Antworten und behandeln die Kursteilnehmer auf Augenhöhe - ohne Stigmatisierung, vor der viele Betroffene Angst haben."

Grundbildung sollte jedem in jedem Alter zugänglich sein, betont er. Sie ermöglicht Teilhabe an der Gesellschaft - und auch die Erweiterung von beruflichen Möglichkeiten. Das ist selbstverständlich für Menschen, die Lernen als lebenslangen Prozess begreifen.

Wissen geht wieder verloren

Wer hingegen in der Schule schon schlechte Lernerfahrungen gemacht hat, wer Lernen vor allem als Druck erlebt hat, für den hört bereits mit dem Ausscheiden aus der Schule das "lebenslange Lernen" auf. Bis dahin Erlerntes wird nicht angewandt und geht wieder verloren: "Auch Lesen und Schreiben werden verlernt", weiß Bumblat.

Funktionale Analphabeten haben nicht selten ihre Schullaufbahn durchlaufen und die Lücken dabei und später im Berufsleben gut versteckt. "Diese Menschen haben oft ein unglaubliches Gedächtnis", erklärt Bumblat, und ausgeklügelte Strategien für den Alltag. Da hat man zum Beispiel "die Brille vergessen", wenn man etwas lesen soll. Auch die Kommunikation über Smartphone findet "irgendwie" statt. Reine Hilfstätigkeiten z.B. in der Reinigung oder Pflege, in denen sich Lese- und Schreibprobleme noch gut verbergen lassen,  werden indes seltener. Wenn plötzlich Schichtpläne gelesen, Dokumentationen erstellt werden müssen, gesteht sich mancher sein Problem ein. Oder wenn die eigenen Kinder in der Schule lesen, shreiben, rechnen lernen: Dann wächst das Bewusstsein, das auch als Erwachsener noch lernen zu können.

Umfangreiches Angebot der MVHS

Die MVHS bietet - kostenlose - Kurse auf ganz unterschiedlichen Niveaus an, darunter sind gut 30 Alpha-Kurse im Semester, Deutschkurse für Legastheniker, Kurse zum Rechnen Lernen und - als Einstieg zum Kennenlernen des Angebots - die offene Lernwerkstatt, die in Kooperation mit den Bildungslokalen in mittlerweile fünf Stadtteilen angeboten wird. Sozialpädagogische Betreuung und Lernberatung ergänzen die Kurse. Die Kursinhalte sind dabei dem Kenntnisstand der Teilnehmer angepasst, werden also nicht wie "nach Schulbuch" gelehrt. "Es geht darum, dass sich die Teilnehmer zurechtfinden", erklärt Bumblat. Manche lernen hier erst, Buchstaben zu "malen", doch es gibt auch funktionale Analphabeten, die Texte flüssig lesen können - aber ihren Sinn nicht erfassen oder wiedergeben können.

Positive Erfahrungen machen

Positive Lernerfahrungen zu schaffen ist für sie alle der Schlüssel zum Erfolg: Es geht um Motivation, sagt Bumblat: "Wir wollen jedem Einzelnen zeigen: Du kannst das, was du im Kurs gelernt hast, auch anwenden!" Tobias Bumblat freut sich, dass die Gesellschaft sensibler für das Thema Analphabetismus wird. "Vor zehn Jahren hätten die allermeisten noch gesagt, das gibt es bei uns gar nicht", meint er. "Da entsteht ein Bewusstsein." Zu einer Enttabuisierung sei es aber noch ein langer Weg.

Er hofft, dass sich noch viele Wege öffnen und die Angebote der MVHS - der ganze Bereich der Grundbildung - bekannter werden. "Bei den Menschen, für die lebenslanges Lernen nicht Standard ist, bräuchte es das Wissen, dass es für sie Unterstützung gibt!" Er setzt daher auf "Mitwissern" im Bekanntenkreis von Betroffenen. Ihnen rät er: "Haben Sie den Mut, das Thema vorsichtig anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass es viele Angebote gibt!"

Denn dann bekommen funktionale Analphabeten im besten Fall die Möglichkeit zu erleben, dass Lesen nicht nur etwas ist, das mit Druck und "müssen" verbunden ist - sondern dass der Griff zum Buch auch etwas ganz anderes sein kann: ein Weg, sich zu entspannen und abzuschalten.

Informationen zu den Grundbildungsangeboten der MVHS gibt es unter Tel. 54 84 76 28.

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