"Alles muss mit der Familie vereinbar sein"
Haben junge Menschen andere Lebensziele als ältere?
Ein Haus bauen, im Garten einen Baum pflanzen. Die Welt bereisen. Karriere machen, viel Geld verdienen. Sich selbst verwirklichen. Glücklich werden. Verschiedene Menschen haben verschiedene Lebensziele; Ansprüche, denen sie im Laufe ihres Lebens gerecht werden, Ideale und Vorbilder, an denen sie sich orientieren wollen. Wir haben Junge und Ältere, Studenten, Unternehmer und Senioren an einen Tisch geholt, um über Lebensentwürfe zu sprechen. Ähnelt die Lebenssituation der jungen Generation plötzlich doch stärker derjenigen der Eltern, die man doch eigentlich so vehement abgelehnt hatte? Sind Berufsbiographien, die nach zehn Jahren Arbeitsleben bereits ein halbes Dutzend Arbeitgeber aufweisen ein Vor - oder Nachteil? Woraus resultieren solch brüchige Lebensläufe überhaupt? Müssen Unternehmer Balance-Wünsche ihrer Mitarbeiter erfüllen, oder sollte die erstrebte Ausgewogenheit nicht eher in zusätzlichem Engagement gefunden werden?
"Wir sind da für die jungen Leute"
Bernd Großholz betreut als Aktivsenior Jugendliche beim Übergang von der Schule in die Ausbildung. Zwei Monate vor den entscheidenden Prüfungen zum Schulabschluss hat er sich in der neunten Klasse einer Mittelschule einmal umgehört: "Ich habe mich erkundigt, wer von den 20 Schülern bereits einen Ausbildungsplatz hat. Vier haben sich gemeldet, die 16 anderen haben angegeben, mit der Schule weitermachen zu wollen - dabei wussten sie noch nicht, ob sie den Abschluss überhaupt schaffen." Er sei enttäuscht gewesen und auch verletzt, aus seinem eigenen Jahrgang habe er es noch anders gekannt; eine Lehre sei begonnen worden, egal ob sie zu einem passte oder nicht. Unterstützung in der Berufsvorbereitung, Rücksicht auf individuelle Wünsche habe es noch nicht gegeben. Heute profitierten die jungen Menschen von genau diesen Möglichkeiten. "Wir sind da für die jungen Leute, wir hören zu und geben Ratschläge," erklärt Großholz.
Bildungsnah und zielorientiert?
Zu seinen Schützlingen sage er stets, sie sollten sich vorstellen, seine Erfahrungen seien wie ein Ordner, in dem viele Dinge stünden, die er weitergeben wolle. Bräuchten sie etwas, könnten sie es herausnehmen, ansonsten sollten sie die Seite umschlagen. Warum dennoch einige keine realistischen oder konkreten Ziele haben? Der Aktivsenior meint: "Bildungsstarke Jugendliche sind zielorientierter und konzentrierter, jungen Menschen mit einfachem Bildungsniveau tun sich schwerer."
Wo Ziele fehlen, fehlt Begleitung
Eine These, mit der sich Sozialpädagogin Karin Feige vom Kreisjugendring schwer tut: "Es ist im Bewusstsein aller Schüler angekommen, dass die Chancen ohne einen guten Abschluss schlecht stehen, ich erlebe auch Mittelschüler, die wissen, was sie wollen." Viel eher hat die Leiterin eines Jugendtreffs den Eindruck, dass bei denjenigen, die sich schwer tun, klare Ziele zu formulieren, meist familiäre Probleme im Vordergrund stünden, dass es an Gelegenheiten mangle, sich mit dem eigenen Werdegang auseinanderzusetzen. Häufig fehle es an Begleitung durch die Eltern.
Träumen ist erlaubt
Auch Petra Reiter kennt dieses Problem. Die Stiftung Bunte Münchner Kindl, deren Schirmherrin Reiter ist, stattet Schüler mit den nötigsten Materialien für den Unterricht aus, Hefte und Stifte, ein Schulranzen. "Viele Kinder erfahren nicht, dass Schule auch Freude machen kann, dass Träumen erlaubt ist. Wenn es schon am Wichtigsten mangelt, wenn ich aufgrund einer fehlenden Schultüte bereits in den ersten Schultagen ausgegrenzt werde, dann lande ich schnell unsanft in der Realität." In der Schule sollten Integration und Inklusion passieren, das müsse gefördert werden.
"Ich hatte Sicherheit"
Reiter weist außerdem auf ein anderes Problem hin, mit dem Auszubildende und Berufsanfänger heute konfrontiert sind: "Als ich einen Ausbildungsplatz gesucht habe, habe ich eine Bewerbung geschrieben und wurde direkt zum Vorstellungsgespräch eingeladen; man hat mir dann sofort zugesichert, mich - unter der Prämisse eines zumindest ordentlichen Abschlusses - auch unbefristet zu übernehmen." 17 Jahre ist Reiter als Buchhalterin in derselben Firma tätig gewesen, eingeschränkt hat sie sich inzwischen nur, um ihren Ehemann, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, besser unterstützen zu können. "Ich hatte die Sicherheit eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses, ich konnte planen. Die jetzige Generation belastet dagegen die Frage, ob der Zwei-Jahres-Vertrag verlängert wird." Eine Gesellschaft tue sich sehr viel schwerer damit, zufrieden zu werden, wenn existentielle Sorgen die Einzelnen belasteten.
Identifikation mit einem Unternehmen
Kathrin Wickenhäuser-Egger bildet selbst aus, sie stammt aus einer Hoteliersfamilie, auch in ihren Hotels und Restaurants gibt es befristete Verträge, sie sieht die Kehrseite der Medaille: "Wir erleben es häufig, dass Mitarbeiter gar nicht mehr unbedingt die lange Bindung zum Unternehmen suchen, wir wünschen uns oft mehr Identifikation mit dem Haus." Gerade in München hätten Arbeitnehmer eine hohe Entscheidungsmacht, Unternehmen müssten sich anpassen, um Fach- und Führungskräfte zu binden.
Flexible Angebote machen treue Mitarbeiter
"Wir versuchen, für unsere Mitarbeiter eine Lebenswelt zu schaffen, in der sie zufrieden sind," erklärt Wickenhäuser-Egger. Damit hat die Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer München und Oberbayern großen Erfolg; beispielsweise mit ihrem Teilzeit-Ausbildungsangebot für junge Mütter: "Durch flexible Angebote an unsere Mütter eröffnen wir den jungen Mamas eine Chance, das verpasste Ziel Berufsausbildung doch noch zu verwirklichen, im Gegenzug bekommen wir unglaublich loyale und treue Mitarbeiterinnen."
Besser nicht festlegen?
Junge Menschen, die sich nicht mehr festlegen wollen und von Ausbildung zu Ausbildung, von Studium zu Studium, von Arbeitgeber zu Arbeitgeber springen, um möglichst viel Geld, möglichst viel Freizeit, möglichst attraktive Konditionen herauszuholen? Herrscht also die gefürchtete Ellenbogen-Mentalität, die der jungen Generation nachgesagt wird; getreu dem Motto: Jeder ist sich selbst der nächste?
Eine ganz hohe Motivation
Dem widerspricht Melanie Schulz ganz klar. Sie studiert Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Universität und erlebt ihre Kommilitonen als engagiert und hilfsbereit. Gerade diejenigen, die auf der Suche nach dem Glück und im Zuge der allseits propagierten Selbstverwirklichung um die Welt gereist seien, hätten einen Blick dafür bekommen, wie privilegiert sie aufgewachsen sind: "Ich glaube, viele haben aus ihren Erfahrungen eine ganz hohe Motivation geschöpft und machen jetzt zum Beispiel ehrenamtliche Arbeit." Auch Katharina Teßmann, Studentin der Kommunikationswissenschaften, erlebt in der Uni täglich, wie viel Empathie in den Jahrgängen herrscht: "Nur wenn alle die Prüfung geschafft haben, freuen wir uns richtig."
Familie ist Priorität
Schulz und Teßmann haben beide nach dem Abitur eine Auszeit genommen, um sich zu orientieren, um die richtigen Entscheidungen für ihre Zukunft treffen zu können. In beruflicher Hinsicht haben sie sich richtig entschieden, da sind die Mädels sicher. Und wie sieht es mit privaten Zielen aus? Melanie Schulz formuliert es klar: "Mein einziges Lebensziel ist es, eine Familie zu gründen. Ich hoffe, dass mir das vergönnt sein wird. Alles, was dazukommt, muss damit vereinbar sein." Pädagogin Feige bestätigt, dass Schulz nicht allein ist mir ihrem Lebensziel: "Die Sinus-Jugendstudie hat ergeben, dass in den privaten Zielen Jugendlicher Familie einen sehr hohen Wert hat. Als Lebensvorstellung am häufigsten genannt wurden eine eigene Familie, Kinder und ein guter Beruf."
Ein guter Teil unserer Gesellschaft
Petra Reiter meint dazu: "Die jungen Leute sind ein guter Teil unserer Gesellschaft, sie haben solide Ziele, sind familiär und rücksichtsvoll." Die Spenden für ihre Stiftung erhalte sie zum Großteil von Jugendlichen, die helfen wollten. Als Gesellschaft stünde Deutschland vor vielen großen Herausforderungen, dennoch - Reiter ist sich sicher: "Wir packen das, wir haben ein gutes Potential. Vielen geht es richtig gut, wenn jeder von ihnen es sich zum Lebensziel macht, einen oder zwei weniger Glückliche an die Hand zu nehmen, sind wir alle gemeinsam auf einem guten Weg."
Unsere Sommer-Frage
Von welchem Beruf haben Sie als Kind geträumt? Unsere Gäste antworteten:
Karin Feige: Als Kind hatte ich wenig Zeit zu träumen. Meine Mutter ist früh verstorben, ich wurde mit der Realität konfrontiert und musste vieles organisieren und meinen Vater unterstützen. Träume kamen erst später, nach dem Fachabitur.
Bernd Großholz: Erst wollte ich etwas mit Technik machen, dann habe ich mich umorientiert, es sollte etwas Kaufmännisches werden. Zuletzt habe ich mich wieder umorientiert und einfach beides gemacht.
Petra Reiter: Ich wollte unbedingt Lehrerin werden. Meine Bären und Puppen habe ich aufs Bett gesetzt und ihnen mit einer kleinen Klapptafel Unterricht gegeben.
Melanie Schulz: Mit meiner Schwester zusammen einen Bauernhof in den Bergen führen, das war unser Traum.
Katharina Teßmann: Ich hatte immer Spaß mit Zahlen und Geld, deswegen sollte es ein Job in der Bank oder als Verkäuferin sein.
Kathrin Wickenhäuser-Egger: Meine Oma hatte einen Tierschutzverein, den wollte ich übernehmen.
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Karin Feige (KJR, Leiterin Kinder- und Jugendtreff „Mooskito“)
Bernd Großholz (Aktivsenioren, IHK Prüfer)
Petra Reiter (Stiftung Bunte Münchner Kindl)
Melanie Schulz (Studentin LMU, Mathematik)
Katharina Teßmann (Studentin LMU, Kommunikationswissenschaft)
Kathrin Wickenhäuser-Egger (IHK-Vizepräsidentin und Voristzende IHK-Arbeitskreis Frauen in der Wirtschaft).
Was denken Sie?
Welche Meinung vertreten Sie? Diskutieren Sie mit! Schreiben Sie uns: Münchner Wochenanzeiger, Redaktion, Fürstenrieder Str. 5-9, 80687 München, leser@muenchenweit.de. Wir veröffentlichen Ihren Standpunkt.
Alle unsere Gespräche
Lesen Sie weitere Sommergespräche in Sendlinger Anzeiger / Werbe-Spiegel bzw. Samstagsblatt:
"Jeder hat eine Chance verdient"
Wie gelingt Integration in den Betrieben?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82158)
"Man muss die Kinder auch mal lassen"
Wie funktionieren Familien?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82159)
"Sterben muss wieder greifbar sein"
Wie gehen wir mit Sterben und Tod um?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82160)
Sicherheit in der digitalen Welt
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82161)
„Sicherlich eine sehr große Herausforderung“
Wie können wir mehr Wohnraum schaffen?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82163)
Lesen und lernen wir richtig?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82164)
Ist Sparen noch sinnvoll?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82165)
Zusammenhalt in München funktioniert - noch!
Bringt Zusammenhalten allen etwas?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82166)
"Die Leuten kaufen wieder bewusster ein"
Heimat: Brauchen wir den lokalen Einzelhandel?
www.mehr-wissen-id.de (Nr. 82167).
Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH